Nach einem doppelten Klopfen an der Tür wird der Raum von einer jungen Kollegin betreten, die zwei Kinder im Schlepptau hat. „Wir brauchen rasch Milch für den Geburtstagskakao, den es in der Frühstückspause zum Geburtstagskuchen geben wird“, erklärt sie. Ganz selbstverständlich öffnet eines der Kinder den unteren Schrank. Doch dann hält das Mädchen kurz inne und wendet sich an die junge Frau.
„Wenn eine Tüte Milch für fünf Kakaos reicht und wir 27 Geburtstagskinder haben, wie viele Tüten brauchen wir dann?“, fragt sie konzentriert. Beide Kinder schauen nun nachdenklich. Das Mädchen, das noch in der Tür steht, überlegt kurz und sagt dann entschlossen: „Da bleibt was übrig. Nimm sechs Tüten mit, dann reicht es auf alle Fälle.“
Die junge Kollegin nickt zustimmend und nimmt die Milch entgegen.
Ich begreife, wie hier Lernen mit und in alltäglichen Aufgaben der Schule integriert ist. Selbst bei scheinbar einfachen Herausforderungen zeigen die Kinder ihren Verstand und ihr Engagement, und es wird klar, dass diese Schule ein Ort des Lernens und der praktischen Problemlösungen ist.
„Das war nicht die Mathelehrerin der beiden, oder?“, frage ich. Frau Zahl grinst. „Das ist Maja. Sie macht gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Schule und hilft im Küchenteam bei den Vorbereitungen.“
Eines der Mädchen kommt noch einmal zurück, steckt ihren Kopf durch die Tür und lädt uns ein, mit ihnen zu feiern. „Aber ich habe im Mai Geburtstag“, gebe ich zu bedenken. Frau Zahl lacht. „Das macht nichts. Gäste sind bei uns immer willkommen.“
Es ist inzwischen 9:30 Uhr, als wir aus der Teeküche wieder in den breiten Flur treten. Das Foyer ist fast leer. Am kreativen Tisch sitzt die Dame, die heute Morgen beim Basteln geholfen hat, und spitzt Stifte. Neben ihr hockt ein kleiner Junge auf der Tischkante und spitzt ebenfalls fleißig.
„Na Leon, was war los?“, fragt Frau Zahl.
Leon blickt auf und seufzt. „Ach, irgendwie war heute schon ein dummer Morgen. Mama war irgendwie sauer, nicht auf mich, aber ich glaube auf Papa, und die beiden hatten heute Morgen einen dollen Streit. Ich bin von ihrem Geschrei wach geworden. Vorhin im Matheunterricht habe ich einfach gar nichts gerafft, und dann hat Niko mich mit Kussmündern provoziert. Bevor ich ihm eine runtergehauen habe, bin ich lieber rausgegangen. Und jetzt helfe ich Heidi, dann muss sie nicht alleine spitzen.“ Neben ihm steht eine Sanduhr, die schon fast durchgelaufen ist.
„Na dann“, sagt Frau Zahl, „will ich dich nicht abhalten. Reicht eine Sanduhr-Pause aus?“
Leon überlegt kurz und nickt. „Ja, die Wut ist schon viel besser und ich will das mit dem Rechnen über den Zehner ja schon verstehen.“
Ich verstehe nicht sofort, was es mit der Sanduhr auf sich hat. Frau Zahl erklärt: „Wenn ein Kind das Gefühl hat, eine Auszeit zu brauchen, kann es sich eine Sanduhr aus dem Klassenzimmer mitnehmen und eine zehnminütige Auszeit nehmen. Auf dem Schulplan sind mit kleinen roten Blitzen Orte gekennzeichnet, an denen ein Kind sich von den Provokationen einzelner Mitschüler oder dem Tumult in der Klasse ausruhen kann. Heidi, eine unserer drei Schulomas, die gegenüber der Schule wohnt und deren Enkel drei Autostunden entfernt leben, verbringt deshalb zweimal in der Woche ihre Morgende hier. Sie ist so ein Ort mit rotem Blitz. Genau wie Hausmeister Max, der immer etwas zu tun hat und bei dem man manchmal einfach Nägel in ein Holz hauen kann, bevor man jemand anderen vermöbelt. Auch mein Büro hat diesen Blitz.“
Diese Regelungen und Orte bieten den Kindern nicht nur eine Möglichkeit zur Ruhe und Reflexion, sondern helfen ihnen auch, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen und konstruktiv mit ihren Konflikten umzugehen.
Da huscht Leon an uns vorbei. „Bis später!“ ruft er fröhlich. Frau Zahl wendet sich an Heidi. „Du bist ja noch hier? Was verschafft uns die Ehre?“
Heidi lächelt. „Mein Mann ist beim Arzt, die Stifte müssen gespitzt werden, und Lioba hat sich daran erinnert, dass ich doch im Oktober Geburtstag hatte und in der Frühstückspause auch meine Feier stattfindet. Als sie vorhin mit den Milchtüten hier vorbeikamen, haben mich die Mädels nochmal eingeladen. Da bleibe ich doch gerne.“
Gemeinschaft macht hier vor nichts und niemandem Halt, denke ich, und lächle beseelt, weil ich mich schon nach zwei Stunden irgendwie zugehörig fühle.
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